Innere Werte

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Dunkle Vorahnungen bestätigten sich: Es handelte sich um ein veritables Präzisionsbauteil mit nicht weniger als fünf Passungen sowie hochanspruchsvollen Form- und Lagetoleranzen. Auf den Gesamtdurchmesser von 110 Millimetern war beispielsweise gerade einmal eine Abweichung von zwei hundertstel Millimetern vorgesehen. Der gelernte, durch seinen weiteren Berufsweg aber etwas aus der Übung geratene Werkzeugmacher wusste, was das bedeutete: Eine Nachfertigung auf der Drehbank war möglich, erforderte vom Bedienpersonal aber ein Höchstmaß an Feingefühl. Zum Glück hatte Jörg in Schlepperfreund Tommi einen wahren Meister im Spitzendrehen an der Hand. Der schaffte es tatsächlich, das dringend benötigte Teil in einem einzigen Anlauf zu fertigen. Gut, wenn man die richtigen Freunde hat!

Der Rest war für Jörg fast schon Routine. Nach Entfernung eines Sicherungsringes zog er die Hohlwelle aus dem Innenring des Wälzlagers und entfernte das Lager seinerseits aus der zerstörten Buchse. Da Wälzlager bei derartigen Operationen Schaden nehmen können, versah Jörg die Hohlwelle mit einem neuen Lager und mit neuen inneren Dichtringen zur Abdichtung gegen die Kernwelle. Nachdem auch noch die Ausgangsbuchse mit einem neuen Radialwellendichtring versehen war, bezog die Hohlwelle wieder ihren angestammten Platz, und Jörg schloss den vorderen Deckel des Getriebegehäuses.

Nun konnte er sich dem nächsten Teil des Triebstranges zuwenden: der Vorderachse. Typische Verschleißteile sind hier die Spurstangenköpfe, die in ausgeschlagenem Zustand Geradeauslauf und Lenkexakteit beeinträchtigen und beim TÜV durchaus zum K.O.-Kriterium taugen.

Vorderachse: In Ordnung
Genau diese Erfahrung hatte der Vorbesitzer möglicherweise gesammelt, oder er war einfach ein besonders gewissenhafter Zeitgenosse. Jedenfalls hatte er die Spurstangenköpfe erst jüngst gewechselt, sodass Jörg sich der nächsten neuralgischen Stelle zuwenden konnte: dem Mittelachsbolzen, an dem die Achse pendelnd gelagert ist. Dessen Lagerung im Achsgehäuse war in der Tat ausgeschlagen, sodass sie ausgebuchst, also zunächst aufgebohrt und anschließend mit einer zum Bolzen passenden Buchse versehen wurde. Darüber hinaus beschränkten sich die Arbeiten an der Achse auf das Abdichten der in den Radnaben liegenden Planetengetriebe und den ­Ölwechsel für Achsbrücke und Planetengehäuse. Abgesehen von den obligatorischen Radialwellendichtringen wurden keine weiteren Ersatzteile benötigt. Das war in mehrfacher Hinsicht beruhigend, denn für den hier verbauten Achstyp APL-3050 kann ZF ­keine Ersatzteile mehr liefern.

Gebrauchtteile finden sich ebenfalls nicht an jeder Ecke, denn die an den gegenläufig zu den Rädern, also bei Vorwärtsfahrt rückwärts rotierenden Kreuzgelenken zu erkennende Achse wurde von 1966 bis 1975 zwar in rund 13.000 Exemplaren gebaut, viele jedoch wurden im Laufe der Jahre zerschlissen oder stecken heute in Sammlerobjekten. Zur technischen Vollendung des 950ers fehlten jetzt nur noch die Arbeiten am Motor.

Gerade beim in relativ geringer Stückzahl gebauten Schlüter-Sechszylinder kann die Instandsetzung empfindlich ins Geld gehen, doch in diesem Fall gab es glücklicherweise nicht übermäßig viel zu tun. Immerhin war das Antriebsaggregat nach rund 7.000 Stunden komplett überholt worden (siehe TC 2/2010, Seite 55) und hatte seitdem offensichtlich nicht mehr allzu hart arbeiten müssen. Es gab im Betrieb jedenfalls keine verdächtigen Geräusche von sich, die auf übermäßigen Verschleiß – beispielsweise an den Lagern – schließen lassen könnten und zeigte weder hohen Ölverbrauch noch die weitaus gefürchtetere Verdünnung des Öls durch Kühlwasser.

Auch der am vorderen Ende der Kurbelwelle befindliche Schwingungsdämpfer präsentierte sich in gutem Zustand, das heißt, die Gummierung zwischen den beiden Teilen war nicht nennenswert eingerissen. Zeigt sich hier ein um den gesamten Umfang reichender, in der Regel verzweigter Riss, ist ein Austausch des Dämpfers dringend angeraten. Fehlender Massenausgleich kann allzu schnell eine gebrochene Kurbelwelle nach sich ziehen. Kurzum: An Jörgs Sechszylinder fehlten sämtliche genannten Alarmsignale, sodass er sich mit einem ­Ölwechsel, der Abdichtung der Kurbelgehäusedeckel und dem Einstellen des Ventilspiels begnügen konnte. Letzteres überließ er mangels eigener Erfahrung dem Schlepper- und Motorenspezialisten Rainer, der ihm dazu gleich noch eine kostenlose Schulung im Fach „Ventiltrieb“ servierte.

Ein geflügeltes Wort der mobilen Gesellschaft lautet: „Wer gut sitzt, der gut fährt.“ In dieser Hinsicht war an Jörgs Schlüter noch einiges zu tun, denn der einst als Komfortmerkmal gepriesene Farmer-Clubsessel präsentierte sich in einem desolaten, wenngleich für einen 36 Jahre alten Schlepper durchaus typischen Zustand. Der von Haus aus elegante rote Lederbezug war an allen Ecken und Kanten aufgeplatzt, und auch die Schaumstofffüllung zeigte ernsthafte Auflösungserscheinungen. Ersatz „von der Stange“ gab es nicht, also war die fällige Instandsetzung eine Aufgabe für den gelernten Sattler und praktizierenden Lackierer Peter. Nachdem dieser die Sitzgelegenheit einer ausgiebigen Rundumerneuerung unterzogen hatte, fehlte nur noch der markante silberfarbene Schriftzug „Schlüter Farmer Club“ auf der Rückenlehne. Hier ergriff Jörg Eigeninitiative: Er fertigte eigens zum Auflackieren des Schriftzuges eine Schablone an, die er noch heute gerne an Interessenten verkauft.

Klaus Tietgens

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